BVerfG: Verfassungsverstoß wg. Zurechnung fiktiver Einkünfte ohne umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls

9. Februar 2021

Grundvoraussetzung eines jeden Unterhaltsanspruchs ist die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten. Das Unterhaltsrecht ermöglicht es insofern den Gerichten, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen. Auch im Rahmen der gegenüber minderjährigen Kindern gesteigerten Erwerbsobliegenheit darf von Unterhaltspflichtigen nach § 1603 Abs. 2 BGB nichts Unmögliches verlangt werden. Die Gerichte haben im
Einzelfall zu prüfen, ob Unterhaltspflichtige in der Lage sind, den beanspruchten Unterhalt zu zahlen oder ob dieser ihre finanzielle Leistungsfähigkeit übersteigt. Fachrechtlich setzt – im Einklang mit dem Verfassungsrecht – die Zurechnung fiktiver Einkünfte, welche die Leistungsfähigkeit begründen sollen, zweierlei voraus. Zum einen muss feststehen, dass subjektiv Erwerbsbemühungen des Unterhaltsschuldners fehlen. Zum anderen müssen die zur Erfüllung der Unterhaltspflichten erforderlichen Einkünfte für den Verpflichteten objektiv erzielbar sein, was von seinen persönlichen Voraussetzungen wie beispielsweise Alter, beruflicher Qualifikation, Erwerbsbiographie und Gesundheitszustand und dem Vorhandensein entsprechender Arbeitsstellen abhängt. Fehlt es daran und wird die Erwirtschaftung eines Einkommens abverlangt, welches objektiv nicht erzielt werden kann, liegt regelmäßig ein unverhältnismäßiger Eingriff in die wirtschaftliche Handlungsfreiheit vor.

 

 

Az 1 BvR 697/20                      Beschluss vom 09.11.2020